Der Münsterhof ist ein Hof, kein Platz

Der Münsterhof
(Ulrich Knellwolf, 1. September 2015)

Der Münsterhof ist ein Hof, kein Platz.
Ein Platz ist ein leerer Raum, irgendwo. Vielleicht stehen Häuser darum, vielleicht auch nicht.
Ein Hof ist ein von Häusern umbauter, von diesen Häusern geformter und geprägter Raum.

Um einen städtischen Platz stehen auch Häuser. Beliebige Häuser. Darum kann der Platz vieles werden: Marktplatz, Sechseläutenplatz, Paradeplatz, Bahnhofplatz. Der Hof aber bleibt ein Hof. Ihm geben markante Häuser den Charakter. Und sein Name sagt oft, wem er das Hofsein verdankt. Der Münsterhof verdankt es in erster Linie dem Fraumünster.

Ein Hof stellt andere Ansprüche als ein Platz.
Ein Platz will belebt, benützt, bespielt, gestaltet werden. Ein Hof ist schon gestaltet, und jede weitere Gestaltung erfordert Fingerspitzengefühl. Sonst machen sich die Gestalter schnell lächerlich.
Der Münsterhof ist anspruchsvoll. Er will sich nicht unter seinem Wert verkaufen lassen.
Er will aber auch nicht aufgemotzt werden wie im 18. Jahrhundert, als hier ein pompöser Neptunbrunnen aufgestellt wurde. Jedoch war der Wasserdruck zu schwach; der Brunnen tröpfelte; er floss nicht. 1811 hat man die Peinlichkeit abgebrochen.

Der Münsterhof hat etwas Vornehmes. Aber er ist nicht elitär und ist kein Snob. Er war sich nicht zu gut, lange Zeit dem Schweinemarkt Platz zu bieten; er hat jedoch nie den Namen „Schweinemarkt“ angenommen. Es machte ihm auch nichts aus, allerhand Krämerstände zu dulden. Er hörte trotzdem nicht auf, Hof zu halten. Dabei hütete er sich, seine Würde von Königs- und Fürstenhöfen abzukupfern, obwohl seine eine Seite von der Kirche der Fürstäbtissin des Fraumünsterstifts gebildet wird. Der Münsterhof hat nie vergessen, dass zwei andere Seiten von Zunfthäusern geprägt sind, und dass die Zünfte Vereinigungen von Handwerkern und Gewerblern waren, und dass es, als die Zünfter Mehrbessere sein wollten, mit Zürich abwärts ging.

Im Zunfthaus zur Waag, 1357 erstmals genannt, 1636/37, vereinigt mit dem Nachbarhaus „zum geilen Mönch“, in der heutigen Form neu gebaut, versammelten sich die Woll- und Leineweber. Nobler hatten es die Weinleute der Zunft zur Meisen im Sinn, als sie sich 1752-57 ihr neues Zunfthaus bauen liessen, den schönsten Rokokobau der Stadt. Fast ein Palais, aber eben doch bürgerlich geblieben und mit beiden Füssen auf dem Platz. Und nicht zu vergessen: Seit die Fürstäbtissin Katharina von Zimmern 1524 ihr Stift der Stadt übergab und heiratete, ist das Fraumünster keine fürstliche Abteikirche mehr, sondern eine städtische Bürgerkirche.

Zur Bürgerlichkeit des Münsterhofs gehört auch, dass er aufhorchen liess, wenn eben diese Bürgerlichkeit in Stadt und Staat gefährdet war. So am 6. September 1839, als Landvolk, gewiss teilweise aufgewiegelt, bewaffnet auf den Münsterhof zog. Das radikale Regiment hatte die Fühlung mit der breiten Bevölkerung verloren. Es liess Militär anrücken. Vierzehn Putschisten wurden getötet; das fünfzehnte Opfer war Regierungsrat Hegetschweiler, der den Befehl zur Feuereinstellung überbringen wollte. Die Regierung konnte nach dem Züriputsch nur zurücktreten; sie hatte versagt.

Auch am Nachmittag des 10. November 1918, es war ein Sonntag, strömten hier trotz eines Verbotes Leute zusammen – rund 7000. Der Erste Weltkrieg ging zu Ende. Die Lage der lohnabhängigen Bevölkerung war teilweise desolat; viele wussten kaum noch, wovon sie leben konnten. Kein Wunder, dass die Russische Revolution von 1917 manchen als eine Hoffnung erschien. Deren Jahrestag sollte auf dem Münsterhof gefeiert werden. War das nun selbst der Anfang einer Revolution? Die Regierung, seit der Volksabstimmung über das Proporzwahlrecht einen Monat vorher verunsichert und schlecht beraten, befürchtete es und liess die Versammlung auf dem Münsterhof durch Militär auflösen. Zwar schoss das in die Luft; ein Soldat jedoch wurde durch den Schuss aus einer nicht militärischen Pistole getötet. Der Schütze konnte nie ermittelt werden. Am Tag darauf unterzeichneten die Kriegsparteien den Waffenstillstand und in der Schweiz begann der landesweite Generalstreik.

An einem Hof stehen Gasthäuser. Mehr noch an einem Marktplatz. Früher alle mit der Gaststube nicht parterre, sondern in der Beletage. Dort sassen die Honoratioren, schauten auf das Gewimmel hinunter und nannten, was dort vor sich ging, trivial, weil auf einem Marktplatz Strassen sich kreuzen, mindestens drei, was auf Lateinisch ein Trivium ergibt.

Auf einem Hof ist nichts trivial. Nicht, weil hier keine trivialen Leute vorbeikämen, sondern weil der Hof die Leute, die ihn betreten, nein, nicht adelt, aber sozusagen einbürgert. Das heisst: Er schliesst nicht aus; er bezieht ein. Gäbe es in Zürich wie seinerzeit im alten Athen die Versammlung der mündigen Bürger, sie könnte nirgends sonst als auf dem Münsterhof zusammenkommen. Er fordert Respekt. Man kann auf ihm und mit ihm nicht machen, was man will. Tut man’s trotzdem, blamiert man sich, wie wir uns blamierten, solange hier, verlegen oder naseweise dreist, Autos herumstanden.

Die Fenster des Münsterhofs schauen uns an, als sässen dort Leute. Als sitze in einem Fenster des Fraumünsters Elisabeth von Wetzikon, Äbtissin des Fraumünsterstiftes, Fürstin des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Als sitze in einem Fenster der Meisen Sir Winston Churchill, der 1946 auf dem Münsterhof begeistert gefeiert wurde, und winke mit Victory-Zeichen und Zigarre. Als sitze auch der Bürgermeister Hans Waldmann an einem Fenster, den Kopf auf den Knien, den sie ihm abschlugen, weil er sich zu viel herausnahm, politisch und finanziell. Und wenn wir schon bei abgeschlagenen Köpfen sind – da sitzen auch Felix und Regula, der Soldat aus Oberägypten und seine Schwester, mit der Thebäischen Legion ums Jahr 300 über die Alpen gekommen, weil sie hier die Christen verfolgen sollten, sie, die doch selbst Christen waren und dafür in Zürich geköpft wurden. Noch heute stehen sie, zusammen mit dem später dazugekommenen Exuperantius, Kopf in den Händen, im Siegel des Staates Zürich. An einem Fenster der Waag sitzt Hans Georg Nägeli, der Sängervater, der den Waagzünftern ihr „Freut euch des Lebens“ komponierte, und es sitzt in einem Fenster der Meisen David Morf von der Zunft zur Zimmerleuten, der bedeutendste Zürcher Architekt seiner Zeit, der den Meisenzünftern ihr Haus baute.

Sie alle schauen uns an. Sie alle sind gespannt, was wir mit diesem Hof anfangen. Und ich höre Felix und Regula sagen: Handelt nicht kopflos mit dem Münsterhof. Handelt als mündige Bürgerinnen und Bürger. Uns kostete das den Kopf. Ihr sollt euren auf diesem Platz gewinnen.